Christa Päffgen – NICO (16. 10.1938 – 18.07. 1988 )
In der neuen Serie Little Fires Everywhere ist mehrmals die Stimme der Sängerin Nico zu hören – sie ist eine der international berühmtesten ‚Kölnerinnen‘ überhaupt und in einem Juli unter dramatischen Umständen verstorben. Grund für ihre anhaltende Bekanntheit ist zunächst ihre sängerische Mitwirkung an drei Songs eines Kultalbums, des berühmten Bananen-Albums, das Andy Warhol 1967 produziert hatte (The Velvet Underground & Nico). Aber geliebt wird sie für andere Songs.
Aus der Kindheit sind nur wenige Daten verbürgt: Christa Päffgen wurde am 16. Oktober 1938 in Köln geboren, sie war Tochter einer Schneiderin Margarete Schulz und des Soldaten Wilhelm Päffgen, der dem gleichnamigen Brauerei-Clan entstammte. Die wohlhabende Familie soll ihn genötigt haben, die ‚Mesalliance‘, die in eine Ehe gemündet hatte, zu annullieren, allerdings behielt die Tochter seinen Nachnamen, was gegen eine legale Trennung spricht. Dass sie sich jedoch mit ihrer Vatersfamilie nicht wohlfühlte drückt ein späteres selbstironisches Zitat aus: „Das Bier liegt mir im Blut. Ich liebe Bier. Solange es mich nicht an meine Herkunft erinnert.“
Die Mutter migrierte nach einigen Jahren aus dem bombardierten Köln, u.a. lebte die kleine Familie in Berlin bei Grete Schulz` Schwester und Neffen. Der Vater verschwand im Nebel der Geschichte, ggf. wurde er nach einer Kriegsverletzung von den Nazis als lebensunwert ermordet. Nicht zufällig kaschierte Nico öfter ihre deutsche Herkunft.
Die junge Nico war schön, sie war berückend, sie war über 1,75 m groß, blond und hatte ‚eisblaue‘ Augen. So wurde sie in ihren Teenagerjahren das erste deutsche Supermodel. Paris war nach Laufstegerfahrungen in Berlin die erste internationale Station, Dior-Fotograf Willy Maywald förderte sie. Hier nannte sie sich Nico und verkehrte in den späten 1950ern mit ExistentialistInnen und Beatniks, sie hörte schrägen Jazz, – die glatte Modewelt war ihr schnell gleichgültig geworden. Rom, London und New York waren weitere Arbeitsorte, ein Vertrag mit der New Yorker Agentur Eileen Ford war der Höhepunkt einer Modelkarriere.
Nico kam in diesem Milieu erstmals in Kontakt mit Drogen: Um schlank und wach zu bleiben, nahm sie wie andere Models Aufputschtabletten, spätere folgte Härteres. In Rom erhielt sie die Chance, in dem berühmten Film La Dolce Vita von Federico Fellini mitzuwirken, und sich selbst zu spielen. Die Schauspielerei faszinierte sie, sie nahm – zeitgleich mit Marilyn Monroe – Kurse im berühmten Actors Studio von Lee Strasberg. Aber eine Nacht mit Alain Delon (damals Partner von Romy Schneider) hatte eine Schwangerschaft zur Folge, am 11. August 1962 kam Sohn Aaron (Ari) zur Welt. Nico zog es ins Swinging London, die Mutter betreute das Kind, nach deren Erkrankung lebte Nico mit dem Jungen zusammen. Allerdings sank ihr Stern als Model, jüngere Frauen wie Twiggy repräsentierten das angesagte Frauenbild, sie war gezwungen, für Reklame zu posieren. Dennoch blieb sie ein It-Girl avant-la-lettre, lernte alle wichtigen Rockmusiker in GB und USA kennen – und deren jeweiligen Drogen.
1965 nahm sie mit Hilfe des damaligen Rolling Stones Managers ihre erste Single auf, I’m Not Sayin’ – wichtiger war das Musikvideo in Schwarzweiß, das die Sängerin auf den Straßen von London und am Themse-Ufer zeigt; es gehört zu den ersten Musikvideos überhaupt.
Bob Dylan machte sie mit Andy Warhol bekannt– und Nico wurde Mitglied der Factory. Warhol definierte sie als seine Mondgöttin. Sie spielte in Warhols Multimedia Performance Exploding Plastic Inevitable und im Film The Chelsea Girls von Warhols und Paul Morrisseys mit. Der durchaus nicht nur schüchterne Künstler Warhol verkuppelte sie mit der Band Velvet Underground, deren männliche Mitglieder nicht begeistert waren, mit der sie aber eine gewisse Zeit auftrat und drei Lieder, die Lou Reed für sie geschrieben hatte, aufnahm – das erwähnte Bananen-Album. Nur ihre Mitwirkung verschaffte der Band den Plattenvertrag, was dem kreativen Kopf Lou Reed nicht gefallen haben kann. Ingrid Strobl schreibt: „Sie interpretierte ihre Songs in Slow Motion und setzte damit einen Kontrapunkt zu dem hämmernden, hektischen, Amphetamin-getriebenen Sound der Band. Velvet Underground waren eine Sensation. Velvet Undergound plus Nico waren umwerfend. Ein Jahr später, 1967 produzierten sie in einem kleinen Studio in New York in nur sieben Tagen eines der wichtigsten Alben der Rockgeschichte: ‚Velvet Underground & Nico‘. Es schlug in der Kunst- und Musikszene der Stadt wie eine Bombe ein, blieb aber lange Zeit ein Geheimtipp für Insider, bis es schließlich zum Klassiker wurde und zur Inspiration für andere Bands, bis hin zu den Punkgruppen der Siebziger- und Achtziger Jahre.“ Und Nico erinnerte sich später: „Wir waren uns zu der Zeit bewusst, dass wir 20 Jahre voraus waren. Und das stimmt auch – genau. Das war viel weniger traditionell als zum Beispiel die Rolling Stones.“
Ihr Vorteil war, dass sie keine Puppe war, die Warhol formen konnte. Der Fotograf Nat Finkelstein, der einen Bildband über Andy Warhol und die Factory herausgab, schrieb über Nico: „Sie trat in Andys Sphäre als ein erwachsener Mensch ein. Sie handelte selbständig, sie traf ihre eigenen Einschätzungen, sie war nicht jemand, der nur dazu gehörte. Nico war eine starke Frau. Sie war ein menschliches Wesen in einer Welt der Symbole.“ Sie transportierte in Zeiten von Flower-Power eine „Aura sakralen Ernstes“ (Tagesspiegel) und fiel auf. 1967 nahm sie in New York ihr erstes Solo-Album Chelsea Girl auf, wofür Bob Dylan, Lou Reed, Jackson Browne, John Cale und Tim Hardin ihr Lieder geschrieben hatten.
Da die Factory kein Ort für einen kleinen Jungen war und er sich an den herumstehenden Alkoholika und bunten Pillen gütlich tat, holte die Großmutter ihn zu sich, obwohl Alain Delon den Jungen nie anerkannt hatte – eine Wiederholung der eigenen Kindheit!
Sie wurde es leid, „als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Fantasien und Begierden zu dienen“ (Ingrid Strobl) und änderte ihr Image vollständig, wurde eine frühe Vertreterin des Gothic-Style. Zunächst rot, dann dunkelhaarig und in schwarzer Kleidung – demonstrierte sie eine nihilistische Haltung zur Welt. Der Sänger der Doors, Jim Morrison, der kurz auch ihr Geliebter war, ermutigte sie, eigene Texte zu schreiben und sie verschrieb sich nun ganz der Musik. Die Sängerin begleitete sich auf einem archaisch anmutenden Instrument, einer kleinen tragbaren Orgel – kein geringerer als Ornette Coleman lehrte sie, auf diesem Harmonium zu spielen. Allerdings waren die neuen Lieder kommerziell wenig erfolgreich. Immerhin: Ihr 1974er Song It has not taken long wurde 2018 von der Zeitschrift Rolling Stone unter die besten 111 Songs Deutscher Herkunft gewählt.
John Cale, der Velvet Underground kurz nach ihr verlassen hatte, produzierte Nicos erste Platten, Cale und Brian Eno traten mit ihr auf. Dabei hatte ihre Musik keine Ähnlichkeit mit der irgendeiner anderen Künstlerin. Der Berliner Musiker Lutz Ulbrich, ein späterer Lebensgefährte, beschrieb ihre Auftritte als “mystische Entrücktheit”. Nicos tiefe traurige Stimme wirkte auf viele verstörend, auf andere betörend.
Damals begann Nico, Heroin zu spritzen, nicht unüblich in der RockmusikerInnen-Szene der Siebziger Jahre. Ihre Mutter starb. Der Sohn war weit weg und unzugänglich, da die französischen Großeltern ihn adoptiert hatten. Sie tauchte einige Zeit in der Versenkung ab, gab aber ab und zu ein Album heraus. In den 1980ern trat sie mit der Band The Faction auf, wobei die Fan-Schar klein war, aber nie abriss.
Nico verarmte, lebte mit dem Experimentalfilmer Philippe Garrel in Paris in mehr als bescheidenen Verhältnissen, äußerte: „Ich muss nicht nach draußen gehen um außerhalb zu sein. Ich kann mich auch in einer kleinen Zelle so fühlen. Tatsächlich bin ich gerne eingesperrt.“ Ihre Musik „brachte in ihr die Verlassenheit, den Verlust und den Schmerz zum Ausdruck, die sie mit dem Heroin zu betäuben versuchte.“ (Strobl) Sie mythisierte ihre Vergangenheit, verklärte ihr früheres Leben als Star in Warhols Factory um sich Auftritte zu verschaffen; im Musikbusiness wie in der Presse war sie als kaputte Junkie-Frau verschrien. Dabei war sie ungewöhnlich kreativ: Sie trug häufig ein Aufnahmegerät mit sich, um ungewöhnliche Klänge aufzunehmen, um alltägliche Geräusche zu ‘sammeln’, wie es in den 1990ern modern wurde.
„Nicos Texte, ihre Melodien und ihre Stimme erzählen unüberhörbar von den Höllen, durch die sie ging.” In Liedern wie Fatherland beschwor sie Szenen aus der Kindheit, Steinwüsten und Trümmerfelder. Zudem machte sie eine mit 13 Jahren erlittene Vergewaltigung durch einen GI der US Air Force zum Thema des Liedes: „Secret Side“. Auch dies machte ihr Gefühl der Entwurzelung verständlich, eine Frau, die keine Heimat hatte „und ihre innere Einsamkeit erfolgreich als Coolness tarnte“ (Strobl). Ihre Plattenfirma bewarb eine ihrer Produktionen mit dem zynischen Slogan: ‚Warum Selbstmord begehen, wenn Sie dieses Album kaufen können?‘“ (Strobl) Sie selbst konterte in einem Interview: „Der einzige Grund, warum ich mich nicht erschieße, ist, dass ich wirklich einzigartig bin.“
Als Ari Boulogne Jugendlicher war, nahm er wieder Kontakt zu seiner Mutter auf. Der bisweilen geäußerte Vorwurf, sie habe ihren eigenen Sohn ‚angefixt‘, an die Droge gewöhnt, scheint nicht zu stimmen, – Ari war bereits abhängig. Le Kid war nun stets bei den Tourneen dabei. 1982 gab sie im Stollwerck in Köln, einem in den 1980ern Jahren besetzten Fabrikgebäude, einen letzten Kölner Auftritt. Ihren Cousin C.O. Paeffgen hatte sie inzwischen kennengelernt.
1987 zog Nico von Manchester nach Ibiza um – zusammen mit Ari. Sie hatte einen Entzug hinter sich, sie hatte ihr Leben geändert, ernährte sich gesünder, begeisterte sich für Umweltschutz. Sie fasste noch einmal im Musikbusiness Fuß, erhielt einen Kompositionsauftrag für das Berliner Musikfestival „Fata Morgana“ im Planetarium. Am 6. Juni 1988 gab Nico zwei umjubelte Vorstellungen vor ausverkauftem Haus. Zurück auf Ibiza stürzte sie am 18. Juli 1988 mit dem Rad und starb wenig später, im Alter von nur 49 Jahren. Die Urne mit den sterblichen Überresten wurde im Grab ihrer Mutter auf dem Friedhof in Grunewald beigesetzt. Zuvor hatte sie bereits gesungen: „Liebes kleines Mütterlein, nun darf ich endlich bei dir sein, die Sehnsucht und die Einsamkeit, erlösen sich in Seligkeit.“ Das Grab ist eine internationale Pilgerstätte.
Heute wird Nico als Pionierin des Dark Wave, Punk Ambient und Gothic-Rock gewürdigt. Die Lieder des Bananen-Albums (Femme Fatale, All Tomorrow’s Parties und I’ll Be Your Mirror) sind Meilensteine der Popgeschichte, die eigenen Lieder einer engen, aber enthusiastischen Fangemeinschaft immer noch wichtig.
Musikerinnen wie Siouxsie Sioux, Patti Smith, Marianne Faithfull, Lisa Gerrard und Björk bezogen sich auf Nicos Musik oder interpretierten ihre Werke neu. Selbst neuere deutschsprachige Künstlerinnen wie Marianne Rosenberg oder die österreichische Sängerin Anja Plaschg alias Soap&Skin erwiesen ihr Reverenz. Es erschienen Hörspiele, ein Theaterstück und neue Musikstücke über sie, u.a. von der Kölner Band um Stefan Krachten.
2006 schlug die Verf. innerhalb eines Wettbewerbs vor, den neuen Platz an dem früheren Messegebäude in Christa-Päffgen-Platz umzubenennen. Der Vorschlag wurde in der Kulturszene unterstützt, aber von konservativer Seite aufgrund ihres „nicht vorbildlichen“ Lebenswandels blockiert.
Dennoch erfuhr Nico in Köln und international immer wieder Würdigungen, so 2008 durch eine multimediale Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst zum 70. Geburtstag oder durch den Film NICO-ICON der Kölner Filmemacherin Susanne Ofteringer. 2017 wählte die Vogue Nico auf Platz 1 der „einflussreichsten Rock-Blondinen aller Zeiten“ – ein Titel, den keine Frau braucht und gerade ihr nicht gerecht wird. Eher entspricht ihr die Einschätzung des Pop-Redakteurs vom KStA , Christian Bos: „Doch muss man Nicos Leben und künstlerische Hinterlassenschaft als Negativfilm zum jovialen Frohsinn beschreiben, dessen die Stadt sich rühmt.”
Text: Irene Franken; das zitierte Manuskript von Ingrid Strobl ist im Kölner Frauengeschichtsverein einzusehen.