Die Historikerin Annette Kuhn, eine bedeutende Pionierin der Frauengeschichtsforschung in Deutschland, verstarb am 29. November 2019 in Bonn.
Am 22. Mai 1934 als Tochter jüdischer Eltern in Berlin geboren, evangelisch getauft, bleibt sie zeitlebens ohne Geburtsurkunde. Die jüdische Herkunft der Familie, Grund für die Flucht ins amerikanische Exil, verschweigen Annette Kuhns Eltern systematisch. Sie wächst in bürgerlich-privilegiertem Milieu mit dieser Lebenslüge auf und erfährt die Wahrheit erst im Nachlass der Mutter und schreibt über das Problem in ihrer im Berliner Aufbau-Verlag erschienenen Autobiografie „Ich trage einen goldenen Stern – Ein Frauenleben in Deutschland“ (2003).
Die Familie kehrt 1949 nach Deutschland zurück. Acht Jahre später konvertieren sie zum Katholizismus. Die Sprechtabus bleiben. Nach Studium in München und Promotion über Hegel wird Annette Kuhn mit knapp 30 Dozentin und dann Professorin für Didaktik der Geschichte an der Universität Bonn. Zur Zeit der Studentenbewegung steht sie qua Amt ‘auf der anderen Seite’, agiert aber als moderate Verhandlungspartnerin. Ende der siebziger Jahre nimmt Kuhn politische Ziele und Forderungen der Neuen Frauenbewegung auf. Als Historiker wie Joachim Fest zu Unrecht behaupteten, Frauen hätten Hitler an die Macht gebracht, fokussierte Kuhn zunächst auf die Opferrolle von Frauen im NS. Sie forderte damit heraus, dass sich Historikerinnen auch mit Täterinnenschaft befassen.
An der Uni entwickelt Kuhn die Disziplin der Frauengeschichte, baut eine wissenschaftliche Bibliothek auf und setzt durch, dass ihr Lehrstuhl um das Gebiet Frauengeschichte erweitert wird. Die männlichen Kollegen führen einen zermürbenden, formal-juristischen Kampf gegen Kuhn, betreiben ihren Ausschluss aus dem Prüfungsausschuss, da die Herren ihre patriarchale Sicht auf die Geschichte als einzige und objektive bedroht sehen.
Mit Valentine Rothe und anderen Herausgeberinnen gibt Annette Kuhn neben ihrer Lehrtätigkeit u.a. eine umfassende didaktische Reihe, Quellenbände zu NS – und Nachkriegszeit sowie das Nachschlagewerk „Chronik der Frauen“ heraus. Es folgen eine Ausstellung im Bonner Frauenmuseum und die Gründung von „metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis.“
Nach Kuhns Emeritierung wird der frauengeschichtliche Lehrstuhl aufgelöst, wogegen sich – vergeblicher – Frauenprotest erhebt.
Mit anderen Frauen zusammen gründet sie 2001 einen Verein, die Annette-Kuhn-Stiftung zur Förderung frauenhistorischer Forschung und Bildung und eröffnet dann 2012 das „Haus der Frauengeschichte“ in der Bonner Altstadt, das von jungen Historikerinnen betrieben wird. Im Garten liegen Gedenksteine für die im KZ Ravensbrück ermordeten Frauen.
Mit 80 Jahren zieht sich Annette Kuhn langsam aus der aktiven Arbeit zurück. In die Diskurse nach der Jahrtausendwende über neue Feminismen, Intersektionalität, postkoloniale Studien und Critical Whiteness ist sie im Haus der Frauengeschichte eingebunden, aber schreibt sich nicht mehr selbst in sie ein. Anlässlich ihres 85. Geburtstags wird sie vom Team des Hauses der Frauengeschichte in kleiner Öffentlichkeit gefeiert.
Am 29.11.2019 stirbt Annette Kuhn nach schwerer Krankheit in Bonn.
Aufgefallen ist mir, dass Annette Kuhn, wie viele Frauen vor ihr, strikt zwischen ihrem privaten und ihrem öffentlichen Leben getrennt hat. Sie stellte sich, wie sie schreibt, nie durch Heirat „unter die Obhut eines Mannes“. In ihren Beziehungen mit Frauen entsprach sie „dem Bild des unpraktischen Professors“ und nahm in klassischer Arbeitsteilung die Versorgungsleistungen ihrer Partnerin dankbar in Anspruch. Über ihre sexuelle Orientierung als Lesbe sprach und schrieb sie nicht direkt: Sie hielt dies für eine reine Privatangelegenheit, die Andere nichts angeht und daher keiner „Bekenntnisse“ bedarf. Kuhns Biografin Barbara Degen schreibt, dieses Schweigen erinnere sie an das Schweigen der Eltern zum Jüdischsein.
Der Kölner Frauengeschichtsverein wird Annette Kuhn und ihr Werk in Erinnerung halten.
© Ina Hoerner