Eine Quer-Denkerin im besten Sinne
Grete Wehmeyer kam am 5. Oktober 1924 in Köln zur Welt. Über ihr Elternhaus ist nicht viel bekannt, der Vater soll Werbetexter und Wagnerfan gewesen sein, die Mutter soll im Textilgewerbe gearbeitet haben. Grete Wehmeyer lebte fast zeitlebens im Elternhaus in Lindenthal.
Die junge Frau absolvierte ein Klavierstudium an der Musikhochschule Köln, ergänzend studierte sie an der Universität zu Köln Musikwissenschaft, Deutsche Literatur und Philosophie. Ihre Doktorarbeit – vorgelegt 1950 – hatte das Thema Max Reger als Liederkomponist. Ein Beitrag zum Problem der Wort-Ton-Beziehung. Anschließend unterrichtete sie Kölner Kinder, darunter auch Flüchtlinge (Fembio). Zu ihren bürgerlichen Schüler:innen hatte sie ein durchaus gespaltenes Verhältnis: „Ich habe in den sogenannten besten Kreisen Unterricht gegeben: in den Familien von Ärzten, Studienräten, Richtern, Professoren. 96% meiner Schüler litten an ihren Familien. Das Klavierspielen hat manchem von ihnen eine eigene, genüßliche Ecke geschaffen, für andere war es eine zusätzliche Plage. Manchmal gelang es, Familien umzukrempeln, öfter wurden mir Schüler von ihren Eltern entzogen, weil ich zu wenig zum Üben ermahnte.“ (aus: Czerny 1983) Die taz-Autorin Sabine Seifert erinnert sich gerne an die Lehrerin: „Es war eine vertrauensvolle Versicherung: Wir reden erst mal, dann kannst du Klavier spielen. Sie war mütterlich, ohne bemutternd zu sein. Missionierend war sie nie. Ich nahm als Jugendliche Witterung auf. … Sie gab Unterricht, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Bei den Schülerkonzerten in ihrer großen Wohnung mit den zwei Flügeln und den geöffneten Flügeltüren saßen hinterher die Herren und Damen Eltern auf dem Sofa, tranken Wein und qualmten, was das Zeug hielt. Das war der Wehmeyer-Salon, das konnte sie auch. Gutbürgerlich. Sie war locker, pragmatisch. Keine Triezerei mit Etüden, keine Triller – statt Tonleitern rauf- und runterzujagen, ließ sie mich Lockerungsübungen für die Körperhaltung machen (die heute zu jeder Stimmbildung gehören) und die Handgelenke auf dem zugeklappten Klavierdeckel kreisen. Sie war überzeugt davon, dass man die natürliche Stellung der Hände berücksichtigen solle. Gegenläufigkeit statt Schnellläufigkeit.”
Die Musikerin hielt Vorträge in der Volkshochschule Köln, bei der GEDOK Köln und auch im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität, wo durchaus noch Nazis lehrten und Sie spielte Konzerte der „Klassischen Moderne“ (Strauss, Strawinsky, Hindemith, Bartók, Satie u.a.).
In den 1950ern rückte ein neues Verständnis von Musik in den Fokus, 1951 entstand das später weltbekannte Studio für elektronische Musik beim (N)WDR in Köln. Nahm die Musikerin das wahr? Mit Sicherheit. Klar ist jedoch, dass sie eher Werke der klassischen „Neuen Musik“ spielte: Schönberg, Hauer, Varèse, Cowell usw. 1983 trat sie (vermutlich) jedoch auch mit John Cage bei einer denkwürdigen Performance in Bonn auf.
Konzertpianistin zu werden war nicht ihr beruflicher Weg, sie war bei Auftritten stets nervös. Zudem wurde ihr der klassische Musikbetrieb zunehmend unerträglich, mit seinen pathetischen Ritualen der Hochkultur und Virtuositätszwängen. So entwickelte sie – angeleitet von Hans Anwander, dem Vater von Ursula Erler – ein eigenes Format, die sog. Gesprächskonzerte, bei denen sie ihre Nervosität transformieren konnte. Mit ihren „kommentierten Konzerten“ ging sie zwischen 1964 und bis weit in die 1970er Jahre auf eine weltweite Tournee an Goethe-Instituten, durch afrikanische und asiatische Länder. “Grete Wehmeyer wurde offenbar als Musik-Botschafterin eines „Deutschland nach dem Kriege“ akzeptiert.“ (fembio) Dazu trug bei, dass sie für die musikalischen Traditionen der bereisten Länder sehr offen war.
Seit 1968 war sie freie Mitarbeiterin beim WDR und anderen Sendern. „Wenn sie im Radio eines ihrer vielen ‚Zeitzeichen‘ sprach, klang ihr kölsches Idiom angenehm durch.“ (Taz) Sie verfasste Bücher über Eric Satie und Edgar Varèse, wobei die Biografie von Satie als Standardwerk gilt.
Auch “demontierte” sie das Standardwerk aller Klavierschüler:innen von Carl Czerny, einem Schüler von Beethoven und Lehrer von Liszt. 1983 publizierte sie „Carl Czerny und die Einzelhaft am Klavier (oder Die Kunst der Fingerfertigkeit und die industrielle Arbeitsideologie)“. Sie hinterfragte das Vorbild der Schnelligkeit beim Spielen und der kunstfertigen Fingerfertigkeit und verband es mit Kapitalismuskritik. In „ARS MUSICA—MUSICA SCIENTIA“ schrieb sie: „Die heutigen Höchstleistungen auf allen Musikinstrumenten und im Gesang sind ebenso das Produkt kapitalistischen Geistes wie der gegenwärtige Höchststand von Industrialisierung und Technisierung. Die Basis ist hier wie dort die Ideologie der Arbeit, die als Preis Askese fordert. Der »Prozess der Zivilisation« hat hier wie dort zu erheblichen Restriktionen der ungezwungenen menschlichen Äußerungen im Täglichen wie auch in der Kunst geführt.“ [Festschrift Heinrich Hüschen zum fünfundsechzigsten Geburtstag, Köln 1980]. Das rief die gesammelte Riege der Musikproduzent:innen gegen sie auf. Von Seiten der Schüler:innen gab es dagegen Zustimmung.
Nach einer Gastprofessur an der Kaiserlichen Musashino Akademie in Tokio setzte sie sich weiter mit Musiktheorie auseinander, der These des „tempo giusto“, nach der der (verhasste) Cerny die Taktgeschwindigkeit von Beethoven objektiv dokumentiert habe und so langsam seien die Stücke zu spielen und nicht anders.
Wehmeyer lehnte sich an das 1988 verfasste Buch des Niederländers Willem Retze Talsma an, „Wiedergeburt der Klassiker: Anleitung zur Entmechanisierung der Musik“; sie folgte ihm mit der Feststellung, klassische Musik werde zu schnell gespielt und müsse entschleunigt werden.
Musik sei ein der Rede ähnlicher Gesang. 1989 veröffentlichte sie ihr Werk zur „Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik“, „Prestißißimo“. Musikwissenschaftler waren abermals entsetzt. Begründung war die Pendeltheorie, über die selbst Der Spiegel 1989 berichtete: „Die Sicherheit, daß der Einbruch der schnellen Technik die Musik vergewaltigt habe, gewinnt sie aus den Forschungen des holländischen Musikwissenschaftlers Willem Retze Talsma. Der ist davon überzeugt, daß die Metronomzahlen der Klassik seit Generationen falsch gelesen werden und die Musik deshalb um das Doppelte zu schnell erklingt: Die Klassiker zählten tack, wenn das Metronom hin- und zurückgependelt war, spätere Zeitgenossen sagten bereits tack beim einfachen Pendelschlag. Tack oder tacktack – Wehmeyers Klage über die virtuose Raserei paßt genau in den Trend. Seit Michael Ende im alternativen Märchen »Momo« unheimliche graue Herren beim Zeitdiebstahl ertappte und Sten Nadolny den Bestseller »Die Entdeckung der Langsamkeit« schrieb, fühlen sich sogenannte Zeitpioniere zum Widerstand gegen den allgemeinen Schweinsgalopp ermutigt.“ (SPIEGEL 20/1989).
Sie schlug vor, die Metronomzahlen im Tempo zu halbieren und spielte selbst Klavierwerke im halben Tempo ein. .
Sie war zeitlebens eine markante Erscheinung: eine große Frau, eine Wissenschaftlerin mit hennagefärbten Haaren, einem hellem Lachen und kölschem Zungenschlag, eine humorvolle gute Zuhörerin. Sie liebte Jacques Offenbach und den rheinischen Humor, plädierte für die Wiedereinführung der Lachkultur in die Musik auf der Grundlage von Michail Michailowitsch Bachtins Werk „Literatur und Karneval.“
“Unangepasst, immer unverschämt gut gelaunt. …Männer (oder Frauen) an ihrer Seite blieben, wenn es sie gab, unsichtbar.” (taz) . In Ihrem Haus in der Geibelstraße bot sie gesellige Abende an. „Konzerte, Vernissagen, Gesprächskonzerte, Vorträge … all das wurde gepflegt und es kam vor, dass zwei Tage später in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Besprechung des Events zu finden war. Immer gab es anregende, belebende und oft auch kontroverse Gespräche über das Dargebotene … und über Gott und die Welt.“ (Nachruf von Peter Paeffgen).
Grete Wehmeyer starb am 18. Oktober 2011 und damit wenige Tage nach ihrem Geburtstag. Sie liegt im Familiengrab auf Melaten wie sie vorher im Familienhaus lebte. Es passt zu ihr, dass ihr Name auf einem schlichten Grabkreuz steht, jedoch ein deutlich sichtbarer QR-Code die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Literatur:
* Fembio
* https://www.spiegel.de/panorama/tack-oder-tacktack-a-7ce33524-0002-0001-0000-000013692783
* https://gedok-koeln.de/nachruf-dr-grete-wehmeyer/
* Sabine Seifert: Die Musikpädagogin: Mein Rolemodel (Taz 2021)
Buchveröffentlichungen von Grete Wehmeyer:
• Kriminalgeschichte der Europäischen Klassischen Musik E-Book 2007
• Langsam leben Freiburg 2000
• Erik Satie Rowohlt Verlag: Reinbek bei Hamburg 1974, 2. Auflage 1998
• Erik Satie. Eine Biographie Bosse Verlag: Regensburg 1998
• Höllengalopp und Götterdämmerung Lachkultur bei Jacques Offenbach und Richard Wagner Dittrich Verlag: Köln 1997 und 2000
• Erik Satie, Bilder und Dokumente München 1992
• Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren. Mozart und die Geschwindigkeit Kellner Verlag: Hamburg 1990
• Prestißißimo! Die Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik Rowohlt Verlag: Reinbek bei Hamburg 1989
• Gioacchino Rossini Biographie, Übersetzungen aus dem Englischen 1986
• Carl Czerny und die Einzelhaft am Klavier oder Die Kunst der Fingerfertigkeit Bärenreiter Verlag: Kassel 1983
• Edgar Varèse Bosse Verlag: Regensburg 1979
Weitere Links:
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- Das Haus in der Geibelstraße 5 hatte durch Einwirken von Künstlerfreunden ein höchst unkonventionelles Äußeres: die Fassade bestand aus Bretterverschlägen.
- Beethoven nach der langsamen Methode gespielt
Irene Franken, 20.10.2021